Was bedeutet es, der „Stimme des Körpers“ zu folgen?

In unserem hektischen Alltag treffen wir täglich unzählige Entscheidungen – oft getrieben von Ãußeren Anforderungen, gesellschaftlichen Erwartungen oder kognitiven Analysen. Dabei Übersehen wir häufig eine wertvolle Ressource, die uns kontinuierlich zur Verfügung steht: die Weisheit unseres Körpers.

Wenn wir von der „Stimme des Körpers“ sprechen, meinen wir nicht nur offensichtliche Signale wie Hunger oder Müdigkeit. Vielmehr geht es um eine subtile, aber tiefgreifende Form der Wahrnehmung, die Eugene T. Gendlin als „Felt Sense“ bezeichnete; die körperlich gespürte Bedeutung einer Situation.

Focusing: Die Methode zur Körperweisheit

Focusing ist eine von Eugene T. Gendlin in den 1960er Jahren entwickelte Methode, die uns lehrt, bewusst mit unserem inneren Erleben in Kontakt zu treten. Gendlin, Philosoph und Psychotherapeut an der Universität Chicago, entdeckte durch seine Forschung zur Klientenzentrierten Psychotherapie einen entscheidenden Erfolgsfaktor: Menschen, die erfolgreich Veränderungen in ihrem Leben bewirkten, bezogen sich beim Sprechen über ihre Probleme auch darauf, wie sie diese körperlich erlebten.

Diese Erkenntnis führte zur Entwicklung einer systematischen Methode, die jedem Menschen zugänglich gemacht werden kann, dem Focusing.

Der Felt Sense: Unser innerer Kompass

Was ist ein Felt Sense?

Ein Felt Sense ist die körperlich gespürte Bedeutung eines Themas, Problems oder einer Situation. Er ist mehr als ein Gefühl oder eine Emotion.

Der Felt Sense ist oft zunächst unklar und verschwommen, wie ein innerer Nebel. Doch wenn wir ihm freundliche Aufmerksamkeit schenken, kann er sich entfalten und uns wertvolle Einsichten vermitteln. Typische Beschreibungen eines Felt Sense beginnen mit Worten wie:

  • „Irgendwie…“
  • „Es fühlt sich an wie…“
  • „Da ist etwas Schweres/Leichtes/Enges…“

Die 6 Schritte des Focusing

Focusing folgt einem strukturierten, aber flexiblen Prozess:

1. Freiraum schaffen

Sich Zeit nehmen, zur Ruhe kommen und die Aufmerksamkeit nach innen richten. Bewusst wahrnehmen, dass man körperlich da ist.

2. Felt Sense entstehen lassen

Ein Thema oder Problem auswählen und die körperliche Resonanz dazu entstehen lassen. Nicht analysieren, sondern spüren, was der Körper zu diesem Thema sagt.

3. Einen „Griff“ finden

Eine Bezeichnung für das gespürte finden: ein Wort, Bild oder einen Satz, der das Empfinden am besten beschreibt.

4. Vergleich und Überprüfung

Prüfen, ob die gewählte Bezeichnung wirklich passt. Gegebenenfalls nach einer stimmigeren Beschreibung suchen.

5. Fragen stellen und Felt Shift erleben

Mit dem Felt Sense in Dialog treten: „Was ist es, das mir dieses Gefühl gibt?“ Den natürlichen Veränderungsprozess (Felt Shift) zulassen.

6. Aufnahme und Integration

Das Erlebte empfangen, verstehen und die gewonnenen Erkenntnisse integrieren.

Focusing im Coaching: Praktische Anwendung

Warum ist Focusing besonders wertvoll im Business-Kontext?

Viele traditionelle Coaching-Ansätze konzentrieren sich hauptsächlich auf die analytische und kognitive Ebene. Focusing erweitert diese Perspektive um die Dimensionen der Emotionen und des Körpers. Gerade bei wiederkehrenden oder tiefsitzenden Problemen sind oft die wahren Ursachen über diese Ebenen zugänglich.

Praktische Anwendungsbereiche:

Entscheidungsfindung

  • Bei komplexen Entscheidungen, wo Pro-und-Contra-Listen nicht weiterhelfen.
  • Wenn der Verstand für eine Option spricht, aber „etwas“ noch nicht stimmig ist.
  • Bei strategischen Richtungsentscheidungen unter Unsicherheit.

Führung und zwischenmenschliche Beziehungen

  • Erkennung und Bearbeitung von Spannungen im Team.
  • Verbesserung der Mitarbeiterführung durch emphatischere Wahrnehmung.
  • Klärung von Konfliktsituationen jenseits oberflächlicher Symptome

Stress- und Ressourcenmanagement

  • Frühzeitiges Erkennen von Belastungssignalen.
  • Identifikation echter Bedürfnisse und Grenzen.
  • Aktivierung innerer Ressourcen für herausfordernde Situationen.

Innovation und Kreativität

  • Zugang zu intuitiven Lösungsansätzen.
  • Erkennung von stimmigen neuen Wegen.
  • Überprüfung von Ideen am Kriterium „stimmig“ / „nicht stimmig“.

Die Kraft der inneren Achtsamkeit

Focusing ist grundlegend eine Praxis der inneren Achtsamkeit. Es geht darum, mit freundlicher Aufmerksamkeit bei dem zu verweilen, was noch unklar ist, anstatt vorschnell nach Lösungen zu greifen.

Diese Haltung ermöglicht es:

  • Komplexe Situationen ganzheitlich zu erfassen.
  • Unbewusste Aspekte ins Bewusstsein zu bringen.
  • Authentische Lösungen zu entwickeln, die wirklich zu uns passen.
  • Die Verbindung zwischen Denken und Fühlen zu stärken.

Integration in den Arbeitsalltag

Focusing-Elemente lassen sich auf vielfältige Art und Weise in den beruflichen Alltag integrieren:

  • Kurze Focusing-Momente vor wichtigen Gesprächen oder Entscheidungen.
  • Körper-Check-ins wärend stressiger Phasen.
  • Intuitive Überprüfung von Lösungsansätzen.
  • Achtsame Pausen zur Kontaktaufnahme mit dem inneren Erleben.

Voraussetzungen und Grenzen

Was braucht es für erfolgreiches Focusing?

  • Bereitschaft zur Selbstreflexion und inneren Arbeit.
  • Neugier auf neue Erlebensweisen.
  • Geduld mit dem eigenen Lernprozess.
  • Eine vertrauensvolle, unterstützende Atmosphäre

Organisationale Voraussetzungen:

  • Wertschätzung kreativer Ressourcen der Mitarbeiter.
  • Anerkennung non-logischer Prozesse als wichtig.
  • Flache Hierarchien mit Freiräumen für persönliche Verantwortung.

Der Felt Shift: Wenn sich etwas löst

Das Ziel des Focusing ist der so genannte „Felt Shift“, ein spürbarer Moment der Veränderung und Erleichterung. Dieser tritt ein, wenn die gefühlte Bedeutung einer Situation sich wandelt und neue Klarheit entsteht.

Ein Felt Shift zeigt sich oft durch:

  • Körperliche Entspannung und Erleichterung.
  • Aha-Erlebnisse und neue Einsichten.
  • Klarheit über nächste Schritte.
  • Ein Gefühl von Stimmigkeit und Authentizität.

Fazit Focusing: Der Körper als weiser Berater

Focusing lehrt uns, unseren Körper als intelligenten Partner zu verstehen, der kontinuierlich wertvolle Informationen über unser Leben und unsere Situation bereithält. Anstatt diese Weisheit zu ignorieren oder zu überhören, können wir lernen, sie systematisch zu nutzen.

In einer Zeit, die von Informationsüberflutung und rationalem Denken geprägt ist, bietet Focusing einen Weg zurück zu ganzheitlicher Wahrnehmung und authentischer Entscheidungsfindung. Es ergänzt analytisches Denken um die Dimension des körperlichen Wissens und eröffnet damit neue Möglichkeiten für persönliches Wachstum und beruflichen Erfolg.



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